3. Dezember 2020 / Kirche & Glauben

"Ein deutliches Führungsversagen der Bistumsleitung"

Missbrauchsfälle im Bistum Münster zwischen 1945 und 2018

Missbrauchsstudie

Foto (WWU - Peter Leßmann): Das Team der Aufarbeitungsstudie (v.l.n.r.): Prof. Dr. Klaus Große Kracht, Dr. Bernhard Frings, Natalie Powroznik, Prof. Dr. Thomas Großbölting, David Rüschenschmidt 


Seit gut einem Jahr arbeiten Wissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) Umfang und Qualität sexualisierter Gewalt durch Priester und Diakone des Bistums Münster zwischen 1945 und der Gegenwart historisch auf. Das fünfköpfige Forscherteam, das die beiden Historiker Prof. Dr. Thomas Großbölting (inzwischen an der Universität Hamburg) und Prof. Dr. Klaus Große Kracht (Universität Münster) leiten, verfolgt insbesondere die Frage nach dem Wissen und der Verantwortung der Personalvorgesetzten. Am heutigen Mittwoch (2. Dezember) stellten die Wissenschaftler erste Zwischenergebnisse und Thesen vor.

Demnach gab es von 1945 bis 2018 Beschuldigungen sexuellen Missbrauchs gegen rund 200 Priester. Die Analyse einer Stichprobe von bisher 49 Beschuldigten ergab 82 Betroffene, die zu 90 Prozent männlich und zum Zeitpunkt des ersten erfahrenen Übergriffs durchschnittlich elf Jahre alt waren. Die Dauer des erlebten Missbrauchs ersteckte sich von einmaligen Übergriffen bis zu Zeiträumen von über zehn Jahren. Im zeitlichen Verlauf zeigt sich eine Häufung von Missbrauchstaten in den 1960er und 1970er Jahren. "Aber es wäre zu einfach", betont Klaus Große Kracht, "diesen Anstieg auf die sogenannte sexuelle Revolution zurückzuführen. Vielmehr traf der gesellschaftliche Wertewandel die Kirche unvorbereitet. Auf die neue gesellschaftliche Situation konnte sie keine Antwort geben."

Den Forschern zufolge verfestigte sich eine spezifische katholische Schamkultur, die das Reden über Fälle sexualisierter Gewalt in der Familie, der Gemeinde und der Bistumsleitung verhinderte. Diese „Grenzen des Sagbaren“ führten dazu, dass Betroffene nur selten den Mut fanden, die Übergriffe zu melden. Wenn sie es taten, reagierte das familiäre und soziale Umfeld häufig mit Unglaube und Abwehr. Diese Sprachgrenzen blieben lange Zeit bestehen und wurden erst mit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals im Jahr 2010 durchbrochen.

Zahlreiche Taten in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren sind den Forschern zufolge auf Intensiv- und Langzeittäter zurückzuführen, die bis zu 25 Jahre lang Minderjährige missbrauchten. Sofern die Bistumsleitung von entsprechenden Taten wusste, verfuhr sie nach dem Modell des "schweigenden Arrangements": Zum Teil auch in Verletzung des kircheneigenen Regelwerks verzichteten die Verantwortlichen auf ein kirchenrechtliches Verfahren oder die Suspendierung des Täters.

Die beschuldigten Priester wurden stattdessen aus der Gemeinde genommen, sie kamen übergangsweise in eine stationäre oder ambulante Therapie und wurden nach einer gewissen Karenzzeit wieder in der Seelsorge eingesetzt. „Den Skandal zu vermeiden und damit die Kirche als Institution zu schützen, aber auch den ‚Mitbruder‘ in seiner priesterlichen Existenz nicht zu gefährden – das waren Motive für diese Vorgehensweise“, sagt Thomas Großbölting. In nicht wenigen Fällen wiederholten sich die Taten. Die Betroffenen wurden dabei zumeist übergangen – kam es überhaupt zu einem Gespräch mit ihnen, so endete dies zumeist in einer Vereinbarung wechselseitigen Stillschweigens.

„Wir sehen darin ein deutliches Führungs- und Kontrollversagen der Bistumsleitung, das sich nicht auf Einzelfälle begrenzt, sondern über Jahrzehnte zu beobachten ist“, betont Thomas Großbölting. Erst zu Beginn der 2000er Jahre und insbesondere seit 2010 verändern sich die Routinen des bislang praktizierten Umgangs mit Fällen sexueller Gewalt gegenüber Minderjährigen im Bistum Münster: Inzwischen gilt eine neue, durchaus strenge und gemessen an den vom Vatikan und der Deutschen Bischofskonferenz formulierten Leitlinien regelkonforme Verfahrensweise im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs. Das Forschungsteam hofft, zum Ende der Projektlaufzeit in der ersten Jahreshälfte 2022 ihren Abschlussbericht in Buchform vorlegen zu können.

Methodisches Vorgehen

Die Forscher haben vollständigen und ungehinderten Zugang zu allen Akten, zu laufenden Untersuchungen und zu den Beständen des Bistumsarchivs. Auch das bischöfliche Geheimarchiv steht ihnen offen. Darüber hinaus führen sie Interviews mit zahlreichen Betroffenen. "Gerade in diesen Gesprächen treten Tatbestände zu Tage, die sich in den Akten des Bistums nicht finden lassen", unterstreicht Klaus Große Kracht.

Anders als in anderen Bistümern arbeiten bei diesem Projekt nicht Juristen, sondern vier Neuzeithistoriker und eine Ethnologin die Geschichte sexualisierter Gewalt durch Kleriker auf. So wichtig die genaue juristische Aufarbeitung gerade im Hinblick auf die individuelle Verantwortung einzelner Personalverantwortlicher auch sei, so wichtig ist nach Überzeugung der münsterschen Wissenschaftler eine historische Aufarbeitung, die allgemeine Veränderungen von Machtstrukturen und Mentalitäten sowohl in der Gesellschaft als auch der Kirche in den Blick nimmt. Erst so ließen sich die Motive und Muster erkennen, die den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche geprägt haben.

Zur Studie
Das Projekt, das die Jahre 1945 bis 2018 umfasst, begann am 1. Oktober 2019. Die Initiative für die auf zweieinhalb Jahre angelegte Studie ging vom Bistum Münster aus, das dafür rund 1,3 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Ein achtköpfiger Beirat begleitet die Forschung, die Beachtung wissenschaftlicher und juristischer Standards sowie die Zusammenarbeit von Bistum und Universität. Das Bistum hat dazu seinen "Interventionsbeauftragten", die Universität ihre Ethik-Beauftragte entsandt. Auch drei Vertreter von Betroffenen,  darunter der Initiator einer Selbsthilfegruppe, sind vertreten.

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