10. März 2022 / Aus aller Welt

Weniger Mädchen als Jungen halten sich für talentiert

Mädchen haben zumeist weniger Vertrauen in ihr Talent als Jungen - der Unterschied ist vor allem in wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten ausgeprägt. In einem Land ist es genau umgekehrt.

«Wenn ich versage, habe ich Angst, dass ich vielleicht nicht genug Talent habe.» Mehr Mädchen als Jungen stimmen dieser Aussage zu.

15-jährige Mädchen glauben im Schnitt weniger an die eigenen Talente als gleichaltrige Jungen. Dies ergab eine spezielle Auswertung der internationalen Pisa-Studie von 2018, für die mehr als 500.000 Schülerinnen und Schüler in 72 Ländern befragt worden waren.

Die Unterschiede sind umso größer, je höher der wirtschaftliche Entwicklungsstatus eines Landes ist und je besser die Leistungen der befragten Schüler sind. Clotilde Napp von der Universität Paris-Dauphine und Thomas Breda von der Paris School of Economics veröffentlichten ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift «Science Advances».

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) führt üblicherweise im dreijährigen Rhythmus die Pisa-Studien durch. Der internationale Vergleich von Schülern umfasst die 38 OECD-Staaten sowie 34 weitere Länder. Neben den Fähigkeiten in Mathematik, in Naturwissenschaften und beim Lesen werden durch die Zustimmung zu bestimmten Aussagen auch Einstellungen der Schüler erfasst. 2018 lautete eine dieser Aussagen: «Wenn ich versage, habe ich Angst, dass ich vielleicht nicht genug Talent habe.» Auf alle Befragten bezogen, stimmten 47 Prozent der Jungen und 61 Prozent der Mädchen dieser Aussage zu.

Geschlechterspezifischer Talent-Stereotyp

«Der Glaube, dass sie weniger talentiert sind als Jungen, kann das Selbstvertrauen von Mädchen beeinträchtigen und dazu führen, dass sie sich selbst schützen und daher herausfordernde Situationen und Chancen vermeiden», schreiben Napp und Breda.

Sie führen das Ergebnis auf einen geschlechterspezifischen Talent-Stereotyp zurück: Demnach gelten Jungen in vielen Bereichen, vor allem in Mathematik, als talentierter im Vergleich zu Mädchen. Frühere Studien ergaben, dass Eltern ihren männlichen Nachwuchs für talentierter halten und dass die meisten Mädchen und Jungen einen erwachsenen Mann darstellen, wenn sie eine intelligente Person zeichnen sollen.

Saudi-Arabien ist das einzige Land in der Pisa-Studie, in dem Mädchen stärker an die eigenen Talente glauben als Jungen. Bei allen anderen war es umgekehrt. In den überwiegend hoch entwickelten OECD-Staaten ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern in dieser Frage ausgeprägter als in den übrigen Staaten - obwohl auch die Gleichstellung von Frauen und Männern dort stärker verwirklicht ist. Dieses paradoxe Ergebnis führen die Studienautoren unter anderem darauf zurück, dass in den wohlhabenderen Gesellschaften der Individualismus stärker verankert sei und Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung eine größere Bedeutung hätten.

Unterschiede in Deutschland stärker ausgeprägt

Napp und Breda fanden einen engen statistischen Zusammenhang mit der Bereitschaft zum Wettbewerb, gemessen anhand der Aussage: «Ich arbeite gerne in Situationen, in denen es um den Wettbewerb mit anderen geht.» Hier war der Geschlechterunterschied annähernd so stark ausgeprägt wie beim Glauben an das eigene Talent. Ähnliches gilt für das Selbstvertrauen und die Erwartung, später einmal in einem Beruf in der Informations- und Kommunikationstechnik zu arbeiten: In all diesen Kategorien kamen die Mädchen auf niedrigere Werte als die Jungen. Dem Untersuchungsergebnis zufolge sind die geschlechterspezifischen Talent-Stereotype in Deutschland stärker ausgeprägt als im OECD-Durchschnitt.

Überraschend war für die Forscher, dass der Geschlechterunterschied im Hinblick auf Talentglauben, Wettbewerbsfähigkeit und Selbstbewusstsein umso größer war, je leistungsstärker die Schüler waren. Obwohl leistungsstarke Mädchen allen Grund hätten, an das eigene Talent zu glauben, hielten sich erheblich mehr gute Schüler als gute Schülerinnen für talentiert.


Bildnachweis: © Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa
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