14. November 2022 / Aus aller Welt

Festnahmen nach Anschlag in Türkei - Regierung in der Kritik

Tag 1 nach dem Anschlag im Zentrum Istanbuls mit sechs Toten: Für die türkische Polizei und das Innenministerium scheint der Fall klar. Experten sehen das Vorgehen der Regierung kritisch.

Zwei Opfer des Bombenaschlags werden in Istanbul zu Grabe getragen.

Die Ermittlungen zum Anschlag mit sechs Toten in Istanbul haben gerade erst begonnen, doch für die türkische Polizei schien der Fall bereits klar. Sie veröffentlichte Fotos einer Frau in Handschellen sowie mit Schlappen und einem Pulli mit New-York-Aufschrift. Sie soll die Bombe auf der Einkaufsstraße Istiklal platziert haben. Wenig später habe die Syrerin gestanden, ihren «Befehl» von der «PKK/YPG/PYD» bekommen zu haben.

Aus Sicht der Türkei sind die syrische Kurdenmiliz YPG und deren politischer Arm PYD Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und ebenfalls «Terrororganisationen». Beide dementierten jegliche Verantwortung für den Anschlag mit mehr als 80 Verletzten.

Nachrichtensperre verhängt

Dass die Lesart der türkischen Regierung lange die einzige Darstellung der Ereignisse ist, die Menschen in der Türkei zu lesen und zu hören bekommen, liegt zum Beispiel an einer schnell verhängten Nachrichtensperre für Medien im Land. Laut offizieller Darstellung wurde die Nachrichtensperre zu Verhinderung von Angst und Panik verhängt. Ausnahmen wurden nur für offizielle Mitteilungen gemacht.

Kurz nach dem Attentat laden zudem Social-Media-Seiten wie Instagram oder Twitter langsam oder nur mit Hilfe eines VPNs. «Die Bandbreitenbeschränkung wurde vom Präsidenten der Türkei angeordnet und vom Leiter der Telekommunikationsbehörde (BTK) durchgeführt», so der Cyberrechtsaktivist Yaman Akdeniz. Der gesamte Prozess sei geheim und unterliege keiner richterlichen oder gerichtlichen Genehmigung.

«Es ist ein autoritäres Regime», sagte Berk Esen, Politikwissenschaftler an der Sabanci Universität in Istanbul, «es stützt sich auf ein Black-Out der Medien, wenn man Gefahr läuft, scharfe Kritik zu kassieren.»

Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen sind, hätten türkische Beamte für eine neue Militäroperation in Nordsyrien plädiert, sagte Berkay Mandirici von der International Crisis Group. Ein Vorhaben, das Präsident Recep Tayyip Erdogan seit Mitte des Jahres ankündigt. Ankara geht regelmäßig gegen alle drei Gruppierungen militärisch vor, in der Südosttürkei, dem Nordirak und in Nordsyrien.

Türkei lehnt US-Beileidsbekundungen ab

Mit der angeblichen Unterstützung für die YPG etwa hatte Ankara auch das Veto für die Nato-Norderweiterung um Schweden und Finnland begründet. Die USA wiederum sehen die YPG im syrischen Bürgerkrieg als Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Innenminister Süleyman Soylu warf Washington erneut vor, «Terrororganisationen» zu unterstützen. Er lehnte Beileidsbekundungen aus Botschaft und Konsulat ab.

Mandirici sagte, es bleibe abzuwarten, ob die türkischen Ermittlungen weitere Beweise für die Behauptung einer Schuld der PKK/YPG aufdeckten. Die Terrormiliz Islamischer Staat oder das Terrornetzwerk Al-Kaida und Sympathisanten dieser Gruppen sollten noch nicht als potenzielle Täter ausgeschlossen werden. In der Türkei gebe es Schätzungen zufolge Tausende von IS-verbundenen Personen, sowohl türkische Staatsbürger als auch Ausländer, die aus Syrien und dem Irak eingereist sind. «Der Istiklal-Angriff spiegelt in Bezug auf Verhalten und Ziel frühere Angriffe des IS mit Blick auf Methode und Ziel in der Türkei in den Jahren 2015/2016 wider.»

Politikwissenschaftler: Deutliche Sicherheitslücke

Das Attentat zeige in jedem Fall eine deutliche Sicherheitslücke, so der Politikwissenschaftler Esen. Laut Polizei ist die Hauptverdächtige illegal aus dem Norden Syriens in die Türkei und Hunderte Kilometer in die Metropole am Bosporus gereist. Sie habe auf einer stark überwachten Straße eine Bombe deponieren und zünden können. Das werfe ein schlechtes Licht auf die Regierung und besonders das Innenministerium, so Esen.

Menschen in der Türkei fühlten sich mit dem Attentat auch erinnert an die Ereignisse im Jahr 2015, als eine Reihe von Anschlägen mit vielen Toten das Land erschütterte. Mit Blick auf die Umfragen konnte die regierende AKP unter Erdogan die Situation damals für sich nutzen. Eine kurz zuvor verlorene Mehrheit konnte sie damals wiedererringen. Auch das nährt derzeit Spekulationen in der Türkei. Denen will sich Esen nicht anschließen. Die Situation könne sich auch ins Gegenteil verkehren, etwa wenn die Opposition eben die Versäumnisse der Regierung für sich nutzen könne. In der Türkei soll im kommenden Juni gewählt werden.


Bildnachweis: © Emrah Gurel/AP/dpa
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