18. Oktober 2022 / Aus aller Welt

Für Mütter in Not: Psychiatrische Hilfe im Wochenbett

Mütter mit Wochenbettdepressionen oder anderen psychischen Erkrankungen haben es doppelt schwer, schließlich müssen sie weiter ihr Baby versorgen. Eine Möglichkeit sie zu unterstützen: Hausbesuche von Ärzten und Therapeuten.

Kliniken wollen Mütter auch über den Kreißsaal und die Mutter-Kind-Station hinaus unterstützen.

Menschen in einer psychischen Krise müssen oft lange auf einen Behandlungsplatz warten. «Für junge Mütter mit Neugeborenen ist die Situation oft besonders schwer, denn sie müssen auch ihre Babys versorgen», sagt die Berliner Psychiaterin und Psychotherapeutin Britta Janßen. Plätze auf Mutter-Kind-Stationen in psychiatrischen Kliniken seien rar und meist nur nach langfristiger Anmeldung zu bekommen. Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf besuchen Janßen und Kollegen solche Patientinnen deshalb nun auch gezielt zu Hause. 

«Mütter mit Babys sind absolut unterversorgt, was psychiatrische Behandlungen anbelangt. Diese Patientinnen sehen wir nur im Krankenhaus, wenn sie so schwer krank sind, dass es wirklich gar nicht mehr anders geht», sagt Janßen, die an der Vivantes-Klinik für Psychiatrie im Klinikum in Kaulsdorf arbeitet. So sei die Idee entstanden, diesen Frauen möglichst frühzeitig zu Hause zu helfen.

Zu ihren Patientinnen gehörte Franziska Zellmer, die im März ihr erstes Kind bekam. Eine halbe Stunde Schlaf pro Nacht, mehr sei für sie in den ersten Wochen nach der Geburt nicht möglich gewesen. «Ich lag wie ein Duracell-Hase im Bett und habe nur darauf gewartet, dass die Kleine wieder gestillt werden muss», erinnert sich die 35-Jährige.

Der permanente Schlafmangel setzte der jungen Mutter immer mehr zu. «Ich hatte Probleme beim Stillen, war nur noch wütend auf mich selbst und hatte irgendwann Angst, mir oder der Kleinen etwas anzutun. Irgendwann bin ich zusammengebrochen und kam hyperventilierend in die Notaufnahme», erzählt Zellmer. 

Dort vermittelten ihr die Ärzte den Kontakt zum Team von Britta Janßen. Zwei Tage später kamen Therapeuten zu der Patientin nach Hause. «Ich bekam einige Wochen lang täglich Besuch. Es war immer wie ein Lichtblick und hat mir super geholfen», erzählt die junge Mutter, bei der eine Wochenbettdepression und eine Anpassungsstörung diagnostiziert wurden.

Versorgung bislang nicht ausreichend

Der Ärztin Janßen steht ein multiprofessionelles Team zur Seite, das auch weiterführende Hilfsangebote kennt und vermittelt. «In verschiedener Zusammensetzung besucht immer ein Zweierteam die Patientinnen zu Hause, auch am Wochenende», erklärt sie. 

Das Konzept, das die Behandlung psychisch Kranker zu Hause ermöglicht, heißt Stationsäquivalente Behandlung (Stäb) und ist seit 2018 in Deutschland zugelassen. Voraussetzung ist, dass die Patienten eine Indikation für eine stationäre Behandlung haben und dass das Therapieziel am ehesten im häuslichen Umfeld zu erreichen ist.

Immer mehr Kliniken bieten diese Art der Behandlung für verschiedene Zielgruppen an. Laut einem gemeinsamen Bericht von Versicherungs- und Krankenkassenverbänden sowie Deutscher Krankenhausgesellschaft (DKG) waren es im Jahr 2020 bundesweit 36 Krankenhäuser. Gestartet waren 2018 bundesweit 13 Krankenhäuser. Die Fallzahl stieg von 400 im ersten Jahr auf 2437 Fälle 2020. Unter den Patienten waren größtenteils Erwachsene, aber auch Kinder und Jugendliche. Neuere bundesweite Zahlen liegen laut DKG noch nicht vor. 

Der Behandlungsbedarf sei insgesamt sehr groß, schätzt Janßen. «Allein im Kaulsdorfer Krankenhaus werden pro Jahr etwa 1000 Kinder geboren. Und die Wochenbettdepression tritt bei etwa 10 bis 15 Prozent der Mütter auf.» Die Versorgung sei momentan nicht ausreichend. «Die Frauen sitzen zu Hause und entwickeln Symptome. Wir werden mit den vorhandenen Plätzen an Grenzen geraten, aber wollten erst einmal einen Aufschlag machen», so die Ärztin. 

Die Stäb sei auch nur ein Baustein bei der Versorgung psychisch  kranker Patienten. «Wir können aber nicht alles abfangen und auch eine Behandlung im Krankenhaus wird in vielen Fällen auch weiterhin nötig sein», schränkt Janßen ein. 

Eine Therapieform für die Zukunft

Franziska Zellmer sagt, sie sei erleichtert, dass sie die Unterstützung bekommen habe: «Ich habe mein Leben wieder im Griff, kümmere mich um mein Baby und den Haushalt.» Sie habe zwar von Anfang an auch viel Hilfe durch ihre Schwiegermutter erfahren. «Doch das Baby stellt das Leben ja komplett auf den Kopf. So einfache Dinge wie essen, wenn man Hunger hat, duschen, wenn man es möchte oder schlafen, wenn man müde ist - all das ist nicht mehr selbstverständlich.» 

In dem Projekt, in dem die Experten auch eng mit Hebammen zusammenarbeiten, geht es auch um Früherkennung. «Wir wollen, dass es möglichst gar nicht so weit kommt, dass die Frauen in ein Krankenhaus müssen», sagt Christoph Richter, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie im Klinikum Kaulsdorf, an der das Projekt angesiedelt ist. Er sieht in den Hausbesuchen eine Therapieform der Zukunft. In vielen Ländern wie etwa in Skandinavien gehe der Trend Richtung Bettenabbau in Krankenhäusern und hin zur aufsuchenden Behandlung zu Hause.

Hierzulande allerdings sehen die Kassen das Konzept kritisch. Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen etwa verweist auf steigende Kosten. Außerdem würden die Mindestanforderungen nicht immer eingehalten. So liege die geforderte Indikation für eine stationäre Behandlung gar nicht immer vor, so eine Sprecherin. Der Verband spricht sich demnach dafür aus, die Versorgungsform in die Hände von psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) zu legen, die Teil der psychiatrischen Versorgung am Krankenhaus sind. 

«Es gibt bisher bundesweit keinen einzigen abgeschlossenen Fall, in dem die Behandlungsbedürftigkeit nicht gegeben war», sagt hingegen Gerhard Längle, Sprecher der Arbeitsgruppe Stäb innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Und: «Die PIAs sind bundesweit völlig uneinheitlich finanziert und nirgends so ausgestattet, dass sie eine intensive aufsuchende Behandlung im Umfang der Stäb durchführen könnten.

Rund die Hälfte der Stäb-Patienten würde Längle zufolge trotz dringender Behandlungsnotwendigkeit keinen stationären Therapieplatz bekommen. «Es werden also viele bisher Unbehandelte erreicht. Das sollte im Sinne der Gesellschaft – und der Krankenkassen - sein, auch wenn es naturgemäß Geld kostet», betont der Arzt. 


Bildnachweis: © Annette Riedl/dpa
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