19. Januar 2022 / Aus aller Welt

Corona-Zahlen auf Höchststand - aber zunehmend unvollständig

Die Corona-Meldezahlen sind so hoch wie nie. Tendenz steigend. Experten rechnen zudem mit mehr Fällen, die nicht erfasst werden können. Worauf sie schauen und was sie für die nächsten Wochen erwarten.

Die Sieben-Tage Inzidenz steigt auf 584,4.

Es sind Zahlen, wie sie Deutschland in der Corona-Pandemie noch nicht gesehen hat: Erstmals mehr als 100 .00 Neuinfektionen binnen eines Tages meldet das Robert Koch-Institut (RKI) am Mittwoch. Sieben-Tage-Inzidenz: 584.

Betroffen sind bisher vor allem jüngere Menschen - einer der möglichen Gründe, aus dem ein vergleichbarer Anstieg von Patientenzahlen in Kliniken bisher nicht zu sehen ist. Doch die Ausbreitung der Omikron-Variante, mit der sich auch Geimpfte und Genesene eher wieder anstecken können, wird nach Einschätzung von Fachleuten schnell weitergehen. Vor Monaten noch unvorstellbare Höchstwerte scheinen eine Frage der Zeit zu sein, auch wenn das RKI schon vor Tagen auf eine wachsende Unvollständigkeit der Meldedaten hinwies.

Meldesystem am Limit

Eine vollständige Erfassung der Infizierten gab es nie und war auch nie angestrebt - auch nicht bei anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe, hieß es vom RKI. In Zeiten hoher Inzidenz gehen Fachleute generell von höherer Untererfassung aus als bei niedrigen Fallzahlen. Insbesondere in diesen und den kommenden Tagen dürften also noch weit mehr Menschen tatsächlich infiziert sein als in der Statistik ausgewiesen.

Mit Laboren und Gesundheitsämtern an den Kapazitätsgrenzen gewinnen aus Expertensicht andere Indikatoren an Bedeutung: RKI-Präsident Lothar Wieler etwa sprach kürzlich von einer «neuen Phase der Pandemie», in der weniger die reine Fallzahl, sondern die Zahl der Schwerkranken entscheidend sein wird. Schon lange betont das RKI, dass der Blick sich ohnehin weniger auf einzelne Tageswerte, sondern auf ein Gesamtbild richten sollte. Aktuell gelte: Meldezahlen verlören nicht völlig ihre Bedeutung.

Weitere Indikatoren

Es gibt eine ganze Reihe weiterer Datenquellen, mit denen das RKI sich auch künftig in der Lage sieht, die Trends verlässlich einzuschätzen. Zu akuten Atemwegserkrankungen etwa laufen mehrere Überwachungsprogramme, die unter anderem auch den ambulanten Bereich einbeziehen. Die seitenlangen RKI-Wochenberichte zu Corona drehen sich längst nicht nur um Neuinfektionen und Inzidenz. Im Fokus des öffentlichen Interesses steht all dies aber bisher weniger, teils auch wegen der hohen Komplexität. Bei der Hospitalisierungsinzidenz hingegen, die seit einigen Monaten über Krankenhauseinweisungen Aufschluss geben soll, ist es so, dass viele Fachleute eingeschränkte Aussagekraft sehen, etwa wegen hohen Meldeverzugs. Es waren zuletzt Forderungen nach einer Nachbesserung laut geworden.

Folgen für den Einzelnen

PCR-Tests auf vagen Verdacht hin und ohne Symptome dürften der Vergangenheit angehören. Eine Warnung über einen möglichen Risikokontakt via Corona-Warn-App zum Beispiel gilt unter Fachleuten nicht zwangsläufig als Anlass dafür. Auch ob künftig jeder positive Schnelltest im Labor nachgeprüft werden kann, ist fraglich. Allerdings fließen nur die im Labor bestätigten Fälle in die Meldedaten ein - würde man dabei nun auch positive Schnelltests berücksichtigen, könnte eine schlechtere Vergleichbarkeit mit den bisherigen Pandemiedaten drohen.

Für Wissenschaftler, die Modellierungen über weitere mögliche Verläufe der Pandemie anstellen, ist es eine schwierige Phase. «Viele Kennzahlen zu Omikron, die wir für gute Prognosen bräuchten, sind noch unklar», sagte der Greifswalder Bioinformatiker Lars Kaderali der Deutschen Presse-Agentur. Wie werden die Krankheitsverläufe ausfallen? Wie genau beeinflussen die teils regional in Deutschland variierenden Kontaktbeschränkungen die Virusausbreitung? Ergebnisse aus dem Ausland sind nicht 1:1 auf Deutschland übertragbar, weil sich jeweils Faktoren wie etwa Impfquote, Altersstruktur der Bevölkerung, Grad an bereits durchgemachten Infektionen und Eindämmungsmaßnahmen unterscheiden.

Die letzte Welle?

Zu erwarten sei, dass die Ansteckungen erst einmal schnell weiter zunehmen dürften, bevor es zu einer gewissen Sättigung und dann einem Rückgang komme, sagte Kaderali, der Mitglied des Expertenrats der Bundesregierung ist. «Die Preisfrage ist, wann die Ansteckungen auf die Krankenhauseinweisungen durchschlagen.» Der Vorteil der wohl weniger schwerwiegenden Omikron-Verläufe - wodurch das Gesundheitssystem höhere Inzidenzen als bisher verkraftet - könne früher oder später durch die schiere Zahl an Fällen aufgewogen werden. Ob dann noch einmal mehr Kontaktbeschränkungen nötig sind, ist für Kaderali noch nicht sicher. «Die Hoffnung ist, dass dies die letzte große pandemische Welle ist, die wir sehen.»

Wie geht es weiter? Mehrere Experten wollen sich auf Anfrage nicht festlegen. Kaderali sagte, man könne auch nicht an einer bestimmten Inzidenzschwelle festmachen, wann Omikron für die kritische Infrastruktur ernsthaft problematisch wird. «Es ist nicht so, dass zum Beispiel bei Inzidenz 900 bundesweit noch alles funktioniert, aber bei 1000 dann nicht mehr.»


Bildnachweis: © Hauke-Christian Dittrich/dpa
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