4. August 2022 / Aus aller Welt

Armutsforscher sehen dramatische Situation

Armut in einem reichen Land: Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, wer in Deutschland mit wenig Geld zurechtkommen muss. Steigende Preise drohen die Lage für viele Menschen zu verschärfen.

Einkaufen bei einer Tafel: Das Statistische Bundesamt veröffentlicht Zahlen zur Armut in Deutschland.

Rund 13 Millionen Menschen sind 2021 in Deutschland armutsgefährdet gewesen. Das sind 15,8 Prozent der Bundesbürger, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag als Ergebnis einer ersten Auswertung mitteilte. Als von Armut bedroht gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat - also wer als Alleinlebender vergangenes Jahr von weniger als 1251 Euro pro Monat und als Familie mit zwei Kindern von weniger als 2627 Euro monatlich lebt. Wegen der hohen Kosten für Lebensmittel, Strom und Heizung sei die Situation derzeit noch weitaus prekärer, warnen Experten.

«Die Dramatik, die wir im Augenblick haben, ist in den Zahlen nicht enthalten», sagt die Darmstädter Sozialexpertin Anne Lenze. «Das trifft diejenigen am stärksten, die ohnehin schon wenig haben», sagt die Professorin. Menschen mit geringen Einkommen gäben bereits einen Großteil für Wohnen und Lebensmittel aus. Sparen oder sich einschränken, etwa bei Restaurantbesuchen oder Reisen, sei für sie nicht möglich, denn dies könnten sie sich ohnehin nicht leisten. Da die Menschen auch meist in schlechter gedämmten Wohnungen lebten, würden sie von höheren Energiekosten voll erfasst.

Als Folge werde sich Armut erheblich verschärfen: «Menschen werden unter das Existenzminimum fallen.» Derzeit kämen die Energiekosten-Abrechnungen mit Nachzahlungsforderungen. «Das heißt, die Menschen müssen für den zurückliegenden Zeitraum mehr zahlen und gleichzeitig künftig höhere Pauschalen, da ist die Frage, wie sie das überhaupt machen sollen.» Die Hilfen der Bundesregierung hätten nicht ausgereicht. Die höheren Preise seien bei der letzten Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze auch nicht berücksichtigt worden. Diese müssten in kürzeren Abständen angepasst werden, forderte Lenze.

Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts waren vergangenes Jahr eher Frauen (16,5 Prozent) als Männer (15,1 Prozent) armutsgefährdet. Im Alter geht die Schere weiter auseinander: Ab 65 Jahren lebten 21 Prozent der Frauen unter dem Schwellenwert und 17,4 Prozent der Männer. Ursache seien geringere Rentenansprüche vieler Frauen wegen unterbrochener Erwerbstätigkeit - zum Beispiel wegen Kindererziehung.

Mit 16,2 Prozent waren Kinder und Jugendliche überdurchschnittlich armutsgefährdet. Gleiches gilt für Alleinerziehende (26,6 Prozent) und Alleinlebende (26,8 Prozent). Ebenso kinderreiche Familien: Das Einkommen von 23,6 Prozent der Personen in Haushalten von zwei Erwachsenen mit drei und mehr Kindern erreichte die Schwelle nicht. Von den Arbeitslosen war mit 47 Prozent fast jeder zweite armutsgefährdet, von Personen im Ruhestand 19,3 Prozent.

Dass Corona mehr Armut in Deutschland verursacht hat, hatte der Paritätische Wohlfahrtsverband errechnet. Das Bundesamt kann wegen methodischer Änderungen keinen Vergleich zur Zeit vor der Pandemie ziehen. Zuletzt registrierte die Behörde ein in etwa vergleichbares Niveau: 2020 seien 13,2 Millionen Menschen (16,1 Prozent) armutsgefährdet gewesen.

Butterwegge: Eigentliches Problem ist soziale Ungleichheit

Einkommensverluste während der Pandemie habe die Armut steigen lassen, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Alles andere sei nicht plausibel. Andere dagegen hätten sehr gut verdient, etwa die Besitzer großer Discounter-Ketten, da mehr Menschen auf günstigere Lebensmittel angewiesen gewesen seien. «Das eigentliche Problem ist die soziale Ungleichheit», sagt Butterwegge, der 2017 für die Linke als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Rennen ging.

«Die Tendenz geht dahin, dass wir in unserem reichen Land verstärkt mit Armut nicht als einem Randgruppenphänomen zu tun haben, sondern als einem Problem, das die untere Mitte erreicht hat», sagt Butterwegge. Passgenaue finanzielle Hilfen seien nötig, auch angesichts der steigenden Energiepreise - etwa für Familien oder alte Menschen, die ohnehin bereits hohe Mieten zahlen müssten. «Die Energie- und Ernährungsarmut kann zu der Sozialen Frage dieses Jahrzehnts werden», sagt der Forscher.

Zudem schlage Einkommensarmut - wie sie vom Statistischen Bundesamt gemessen wird - vermehrt um in absolute Armut. «Wir haben Verelendungstendenzen im Milieu der Obdachlosen, der Drogenabhängigen und der illegalisierten Migrantinnen und Migranten», sagt Butterwegge. «Wenn die Gesellschaft nicht aufpasst, geht der soziale Zusammenhalt verloren.»


Bildnachweis: © Felix Kästle/dpa
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